Mittwoch, 21. September 2011

Le Havre

Kaurismäki hat wie Woody Allen sein Land verlassen, um einen geeigneten Drehort für sein Filmprojekt zu finden. Für den Film Le Havre besuchte der finnische Regisseur einige Hafenstädte in Italien und Frankreich, um sich letztendlich für Le Havre zu entscheiden. Ob dies zur Freude des dortigen Tourismusbüros geschah, kann ich nicht sagen. Die Schauplätze, die der Zuschauer auf den ersten Blick von Le Havre zu sehen bekommt, verlocken nicht gerade dazu, sich in den TGV nach Nordfrankreich zu setzen.
Das marode Hafengebiet, eine Straße mit Bäckerei, Bistro und kleinem Gemüsehändler, eine Krankenhausszenerie, die die Depressionsrate der Kranken garantiert in die Höhe treibt, und dennoch begleitet man den Protagonisten Marcel mit Interesse bei seinen täglichen Unternehmungen. Zunächst geht der gepflegte ältere Herr seinem Tagesgeschäft nach, trinkt ein kleines Glas oder mehrere in seiner Stammkneipe, bringt die Tageseinnahme seiner Gefährtin abends nach Hause.
In sanften Naturtönen fast ohne moderne städtische Elemente wirkt der Schauplatz zeitlos. Hätte man nicht die Euros in der kleine Kiste gesehen, in die die Tageseinnahme sorgfältig verwahrt wurde könnte das Geschehen auch in den 80er Jahren ablaufen. Verstärkt wird der Eindruck noch durch die Automodelle, die von der Polizei gefahren werden und - für ältere Frankophile - Chansons und Rockmusik aus den Jahren.
Das Geschehen allerdings situiert sich wohl genau in einer spezifischen Zeit, worauf die Fernseheinspielungen von Nachrichtensendungen in einem Bistro hinweisen. Das rigorose Auflösen von illegalen Siedlungen in den Vororten von Calais durch die französische Polizei zeigt die harte Realität, denen sich die Illegalen stellen müssen. Die Fernsehaufnahmen sind wenige Jahre alt und keine Fiktion.
Umso mehr wünscht man sich, dass dem jungen Einwanderer Idrissa ein vergleichbares Schicksal erspart bleibt.
Der liebenswerte Schuhputzer Marcel hat sich des afrikanischen Jungen angenommen, nachdem es diesem  gelungen war der Polizei zu entkommen, die ihn und seine Gruppe in einem Container entdeckte. André und seine Nachbarn kümmern sich aufopfernd und einfallsreich darum, dass er der Polizei immer wieder entwischen kann.
Allerdings gibt es eine Ausnahme : einen Nachbar, dieser Spitzel wird im Genre vom geheimnisvollen dunklen Bösewicht ansatzweise gezeigt. Details, die wie viele andere kurze Elemente immer wieder das Märchenhafte leicht brechen. Das Agieren des Denunzianten erhöht jedoch die Spannung, da er nicht locker lässt und dadurch den zur Unterstützung des Flüchtlings gewillten Kommissar in Schwierigkeiten bringt.
Während sich Marcel um Idrissa kümmert, indem er mit viel Aufwand Familienangehörige aufsucht , um die Adresse von Idrissas Mutter in London ausfindig zu machen, muss seine Gefährtin wegen einer unheilbaren Krankheit ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Wie Ihr merkt, gibt es 2 Handlungsstränge, deren Weiterentwicklung die Geschichte nicht langweilig werden lässt trotz gewisser Dauer und dem ruhigen Rhythmus des Films.
Das Faszinierende und Märchenhafte jedoch entsteht für mich aus den Charaktere: Marcel, ein ehemaliger Künstler, der im Alter als Schuhputzer mit einer bewundernswürdigen Haltung und Eleganz in der Stadt zu Gange ist, seine Gefährtin , die Inkarnation der liebenden, einfühlsamen Frau, von allen geschätzt, beide pflegen solch ruhige und gemessene Kommunikation, auch in den angespanntesten Situationen, dass man nostalgisch werden könnte nach Zeiten ohne Handy, ohne Flüche, nach echtem Gespräch. 
Alle Personen, ob die urigen Typen im Bistro, ob die afrikanischen Flüchtlinge oder der Kommissar, die Nachbarn, sie alle gehen vorbildhaft miteinander um, sie hören sich zu, sie gehen aufeinander ein, sie respektieren sich auch in der Auseinandersetzung.
Man hilft dem Fremden ungefragt, ohne zu zögern, ohne Erwartungshaltung, mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln. Der Mensch ist solidarisch bis zur Selbstaufgabe.
Dieses Wunder in dem kleinen Ausschnitt der Gesellschaft in Le Havre zu erleben berührt so sehr, dass man fast vergisst, dass Flüchltlinge im Mittelmeer in ihren überfüllten Booten immer wieder elend zu Tode kommen. Le Havre wird zur wunderbaren Stadt und „Le Havre“ bleibt ein wunderbares Märchen.

Grüße von Movidora

Marcel mit Idrissa beim Gespräch



2 Kommentare:

  1. Hallo Movidora,
    Wenn ich mich recht erinnere, ein Interview im TV, ist Kaurismäki einer, der an das Gute im Menschen glauben möchte. Zitat : „Wenn es etwas gibt in dieser Welt, woran ich glaube, ist es Gerechtigkeit. Je älter ich werde, desto wütender werde ich, weil sie sich einfach nicht einstellen will". Mit dem Fim möchte er uns motivieren, gut zu sein. Das gefällt mir, es gibt noch Hoffnung. Ich werde mir den Film ansehen. Danke für Deinen tollen Beitrag. Ich begrüße Dich in der Welt der Blogs und wünsche Dir viel Erfolg. Grüße von Siri

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  2. Vielen Dank Siri,
    du hast recht, Kaurismäki ist, obwohl er sich wie im letzen Zeitmagazin als Pessimist bezeichnet, ambivalent. Er glaubt doch auf seine Weise an eine Zukunft, eine ideale Welt." Es wäre eine Welt, in der menschenfeindliche und gesichtslose Konzerne keine Macht mehr haben. Europa wäre ein enger Verbund unabhängiger Staaten mit eigener unabhängiger Kultur unter wahrhaft demokratischer Kontrolle." Mal sehen, was Kaurismäki uns als nächstes bringt.
    Movidora

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